Cover
Titel
Technikanthropologie. Handbuch für Wissenschaft und Studium


Herausgeber
Heßler, Martina; Liggieri, Kevin
Erschienen
Baden-Baden 2020: Nomos Verlag
Anzahl Seiten
592 S.
Preis
€ 58,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Maike Niehaus, Institut für Medienwissenschaften, Universität Paderborn

Gerade in Zeiten der beschleunigten Technologisierung gerät bisweilen in Vergessenheit, was aktuellen Entwicklungen vorausging. Daher möchten Martina Heßler, Professorin für Technikgeschichte an der TU Darmstadt, und ihr Mitarbeiter Kevin Liggieri mit ihrem Handbuch den Blick auf diese Leerstelle richten und somit das Bewusstsein für Themen stärken, die historisch nicht neu sind. Zentral sind dabei vernachlässigte Prozesse und Dynamiken, die einen maßgeblichen Anteil an Ursprung und dem vorherrschenden Verständnis aktueller Technologien sowie dem Mensch-Technik-Verhältnis hatten (und auch weiterhin haben).

Ein Beispiel dafür ist die Digitalisierung: Die Coronakrise führt uns aktuell erneut vor Augen, wie stark wir von ihr bestimmt werden. Während die einen die neu entdeckten Möglichkeiten bereits als die goldene Zukunft deklarieren, mahnen andere vor den Konsequenzen oder können die Entwicklungen kaum schnell genug nachvollziehen. Mit Sicherheit kann man davon ausgehen, dass die aktuelle Pandemie und ihre Konsequenzen für die Digitalisierung wie ein Katalysator gewirkt haben und sich dieser Trend auch die nächsten Jahre fortsetzen wird.1 Das Mensch-Maschine-Verhältnis befindet sich im kontinuierlichen Wandel, was aufgrund der aktuellen Pandemie noch beschleunigt wird. Um Wirkungsweisen, Aushandlungen, Umbrüche und bestehende Problematiken heutiger und zukünftiger Technologien reflektieren zu können, bedarf es auch einer historischen Perspektive auf Technik und dem Verhältnis zum Menschen, so die Herausgeber/innen. Dazu gehört unter anderem ein starker Einbezug analoger Technologien, die nicht oder kaum von neueren digitalen Technologien zu trennen sind (man denke beispielsweise an Infrastruktur und wie viele von uns in Zeiten von Home Office und täglichen Videocalls mit einer schlechten Internetleitung zu kämpfen haben). Das Handbuch will daher eine historische Betrachtung über Technikanthropologie liefern, also dem Mensch-Technik-Verhältnis, dessen Wechselwirkungen und Wandlungen und den zugrundeliegenden Vorstellungen von Mensch und Maschine. Dazu gehören im Weiteren auch dessen Schnittstellen sowie der Anthropozentrismus als ein weiterhin wirkmächtiger Aspekt für die Entwicklung und Wahrnehmung von Technik.2 Damit möchten die Herausgeber/innen ein Werkzeug anbieten, um technikanthropologische Herausforderungen und Verschiebungen analysieren und reflektieren zu können.

Das Handbuch beginnt mit einem Grundlagenteil vorrangig zu Anthropologie, Humanismus und Technik. In weiteren Kapiteln werden zentrale Theoretiker/innen der Technikanthropologie unterschiedlichster Disziplinen (z.B. Martin Heidegger als Philosoph, Marshall McLuhan als Vertreter der Medienwissenschaften oder Lucy Suchman für die feministischen Science & Technology Studies) – an die immer wieder angeknüpft wird –, zentrale Konzepte und technisierte Menschenmodelle sowie technisierte Praktiken und Körpertechniken vorgestellt.

Besonders hervorzuheben sind beispielsweise Beiträge wie Gabriele Grammelsbergers Text zu „Affective Computing“, die in ihrem Artikel sehr anschaulich aufarbeitet, wie gerade der Affekt, der zunächst als Alleinstellungsmerkmal für Menschliches galt, da dieser im Gegensatz zur Rationalität nicht von Maschinen reproduziert werden kann, zunehmend doch technisch greifbar und quantifizierbar gemacht wird, etwa durch Sensorenmessung. In einigen weiteren Artikeln wird so ebenfalls aufgearbeitet, wie sich die Sonderstellung des Menschen aufgrund von Technologien verschiebt, und die Frage aufgeworfen, ob es nun noch etwas essenziell Menschliches gibt oder ob wir in der Tat im Sinne der Kybernetik auf Schalt- und Feedbackkreise heruntergebrochen werden und dementsprechend auch manipuliert werden können.

Andere Beiträge wie „Cyborg“ von Dierk Spreen bieten Raum für Anschlussfragen: Der Beitrag geht auf die Historie des Begriffs ein und erläutert verschiedene Diskurse rund um den Begriff, wie etwa die sozialtheoretische Bedeutung oder die Rolle und Potenziale im Rahmen von „Industrie 4.0“. Dafür geht Spreen kurz auf die jeweiligen Diskurse oder eine Definition von „Cyborgisierung“ ein: So wird noch nicht ganz klar, ob bzw. warum das Holzbein als Prothese oder der Greifarm, um die Fernbedienung zu erreichen, nicht schon als Technologien gelten, die einen Körper zum Cyborg umwandeln können. Fragen nach dem Zusammenspiel von Menschen und Maschinen werden dabei im Handbuch ebenfalls immer wieder (historisch) aufgearbeitet (so zum Beispiel in den Beiträgen zu „Homo Faber“ von Oliver Müller oder „Kybernetik“ von Philipp Aumann).

Viele der Beiträge, darunter vor allem solche, die sich konkreter mit bestimmten Technologien oder Praktiken auseinandersetzen, verbleiben dabei eher bei mechanischen, analogen Maschinen und folgen damit dem eingangs beschriebenen Programm des Handbuchs. Es wäre zu fragen, ob eine solche Perspektive auch von einem stärkeren Fokus auf Algorithmen, Software und dem Digitalen noch hätte erweitert werden können, denn auch diese Technologien und Herausforderungen begegnen uns historisch schon länger; beispielsweise in Bezug auf aktuelle (und wiederkehrende) Diskussionen um die strukturelle Diskriminierung von Minderheiten durch Technologien.3

Natürlich können trotz eines breiten Ansatzes nicht alle Spezifika eines solch großen Themas abgedeckt werden. Zu fragen wäre hier nach Alternativen oder Erweiterungen zu den gewählten Beiträgen oder der Gliederung des Handbuches: Eine Betrachtung von Militär(-technologien) und deren Wechselwirkung mit anderen Technologien, z.B. an anhand von aktuellen Diskursen um autonome Waffensysteme, Drohnen etc. und der Rolle des Menschen in diesem Kontext 4 wäre hier naheliegend gewesen, bedenkt man, dass gerade das Militär technologische Entwicklungen seit Jahrzehnten vorantreibt,5 wenn nicht sogar seit Jahrhunderten und Jahrtausenden. Die Artikel haben dabei teils eine unterschiedliche Fokussierung und Dichte an Informationen (zum Beispiel der Beitrag zu „Psychiatrie“, der bereits ein recht spezifisches Feld beschreibt, im Vergleich zum Artikel zu den „Ingenieurwissenschaften“, welcher allgemeiner bleibt), was aber keinen Grund für Kritik darstellt, sondern die Diversität der Beiträge aufzeigt.

Insgesamt sind Aufbau und Auswahl der Beiträge griffig und sinnvoll. Den Leser/innen werden viele Grundlagen, zentrale Konzeptionen und Theorien des Felds vorgestellt, auf die auch in anderen Beiträgen immer wieder eingegangen wird. Etwas unklar ist bei manchen Beiträgen die Adressierung der Zielgruppen „Wissenschaft“ und „Studium“. Eventuell wäre ein Glossar hier eine sinnvolle Ergänzung gewesen, damit qualitativ hochwertige und anspruchsvolle Beiträge geliefert, zugleich aber die für ihr Verständnis benötigten Begriffe und Definition nachgeschlagen werden können.

Auch die Querverweise, die leider nicht immer effizient platziert sind, hätten noch verbessert werden können. Da viele Artikel auf dieselben Themen oder Theorien verweisen, wäre hier eine noch stärkere Verknüpfung durch Verweise hilfreich gewesen: Leser/innen könnten sich so ihrem eigenen Vorhaben nach durch das Handbuch arbeiten und so Hintergründe nochmals genauer nachlesen oder anknüpfende Themen erfassen. Außerdem wäre es wünschenswert gewesen, wenn bei allen Beiträgen konsequent auf eine gendergerechte Schreibweise geachtet worden wäre.

Durch seinen Aufbau und Anspruch eignet sich das Handbuch als Grundlagen- und Referenzwerk; vor allem auch für Leser/innen, die nicht aus den Geschichts-, den Technikwissenschaften oder der Informatik kommen. Das Werk erfüllt seinen historischen Anspruch durchgehend, arbeitet bisherige Theorien, Erkenntnisse und relevante Bereiche auf und bietet sowohl eine Grundlage als auch ein Werkzeug für anknüpfende und weiterführende Ansätze, Entwicklungen und Herausforderungen, die uns mit zunehmender Technologisierung und neuen Technologien mit Sicherheit begegnen werden.

Anmerkungen:
1 Siehe zum Thema Digitalisierung während der Pandemie z.B. Magdalena Taube, Zusammenarbeiten trotz ‚Corona-Krise‘? Warum der aktuelle Netz-Hype unsere Gesellschaft gefährdet, in: Berliner Gazette, 08.04.2020, <https://berlinergazette.de/zusammenarbeit-corona-krise-netz-hype/> (20.03.2021).
2 Ein Jahr zuvor ist das von Kevin Liggieri mit herausgegebene Handbuch „Mensch-Maschine-Interaktion“ erschienen; die Abgrenzungen zwischen diesem und dem vorliegenden Handbuch sind dabei nicht immer klar: Kevin Liggieri / Oliver Müller (Hrsg.), Mensch-Maschine-Interaktion. Handbuch zu Geschichte – Kultur – Ethik, Berlin 2019.
3 Hierzu siehe bspw.: Ruha Benjamin, Engineered Inequity. Are Robots Racist?, in: Dies., Race after Technology, Cambridge 2019, S. 49–76; Alex Hern, Twitter apologises for ‘racist’ image-cropping algorithm, in: The Guardian, 21.09.2020, <https://www.theguardian.com/technology/2020/sep/21/twitter-apologises-for-racist-image-cropping-algorithm> (20.03.2021).
4 Hierzu siehe bspw.: Jutta Weber, Keep Adding. Kill Lists, Drone Warfare and the Politics of Databases, in: Environment and Planning D: Society and Space 34/1 (2016), S. 107–125.
5 Hierzu siehe bspw.: Jordan Crandall, Operational Media, in: CTheory, 06.01.2005, <https://journals.uvic.ca/index.php/ctheory/article/view/14535> (20.03.2021).